Ein Coach und eine Theologin zum Thema Minimalismus Von Margitta True | 18.03.2024, 15:41 Uhr | SHZ
Sogenannte Kruschecken endlich mal aufzuräumen, kann das Leben verändern. Minimalismus ist das neue Hygge, das Loslassen von Ballast an Dingen oder Verpflichtungen. Mit Tipps zu dieser zeitgemäßen Art des Fastens.
Minimalismus bedeutet, sich auf das Wesentliche zu beschränken: In sozialen Medien präsentieren Menschen ihre neue Lebensweise des Konsumverzichts. Gepostet werden mitunter Fotos von fast leeren Wohnungen mit kahlen Wänden und einem Mindestmaß an Möbeln. Ein Efeustängel wirkt dann schon wie das pralle Leben.
Ist Minimalismus eine Hygge der Askese, die neue Art des Fastens in einer Welt des Überflusses?
Minimalismus-Coach Sabine von Brehmer hält dagegen. Sie berät ihre Kunden beim Aufräumen von überbordenden Vorrats- oder Kleiderschränken: „Der Bedarf nimmt zu.“ Angesammelter Kram binde Energie und damit Ressourcen, sagt sie, was den Menschen aber erst nach dem Aufräumen bewusst sei. Stattdessen fühlten sie sich eher durch ihre Arbeit und eine 40-Stunden-Woche überlastet.
Mit „W wie weg“ gegen den Krempel
Von Brehmer hilft Menschen, überüssiges aus ihrem Leben zu entfernen, um Raum für Neues zu schaffen. Wer den Kleiderschrank bis auf wenige Stücke ausschlachtet, die tatsächlich getragen werden, sagt sie, solle den Raum nicht mit neuen Klamotten füllen. Dann wäre der Sinn des Minimalismus verfehlt, so von Brehmer. Ihr Motto: „W wie weg“.
Aus Einsamkeit und Angst an Dingen festhalten
Vor allem Single-Haushalte seien vollgerümpelt, gibt die Trainerin Einblick. Das sei zum Teil eine Wirkung von Corona, denn die Pandemie habe soziale Netzwerke empfindlich gekappt: „Einsamkeit spielt eine Rolle.“ An materiellen Dingen würde dann gern aus einem Angstgefühl
heraus festgehalten.
Deswegen erfolge die Aktion meist in kleinen Etappen: „Das Aufräumen schafft Klarheit im Kopf.“ Ziel sei es, den „Rhythmus zu nden, Dinge regelmäßig loszulassen“. Bleiben dürfen Sachen, „die man mag und braucht“. Doch wenn Opas Wintermantel und die Haustürschlüssel von anno 1987 endlich entsorgt sind – was folgt dann?
Mehr Energie durch Schonen der Ressourcen
Im Prozess des Ausmistens, erzählt von Brehmer, werde nach und nach festgestellt, „woher die Unzufriedenheit eigentlich kommt“. Oft sei die Arbeit ein Thema, das die Menschen belaste.
Minimalismus werde oft so verstanden, erläutert die Coachin, als gehe es darum, die eigene Produktivität zu senken: Weniger Besitz erfordert weniger Verdienst. „Dabei können Arbeit und Geldverdienen etwas Positives sein.“ Das Gefühl des Ausgebranntseins könne durchaus nachlassen, sobald Menschen ihr Leben neu strukturierten und dadurch mehr Freiräume im Alltag für sich entdecken:
„Ich schone meine Ressourcen und habe trotzdem mehr Gewinn.“ Sabine von Brehmer - Minimalismus-Coach
Das ergebe dann „oft einen neuen Blickwinkel“ – den der Wertschätzung und Dankbarkeit für das, was da ist – wie für Familie und Beruf: „Arbeit hat auch eine soziale Funktion.“ Nur in wenigen Fällen könne ein konsequentes Kappen solcher Bindungen auch guttun, macht von Brehmer klar.
Fünf Tipps von Minimalismus-Coach Sabine von Brehmer:
Weniger ist mehr.
Löse dich von der Vergangenheit und schaffe Raum für Neues.
Schaffe dir ganz bewusst wieder mehr Zeit und Raum für das Wesentliche in deinem Leben.
Innen wie außen - schaffe Ordnung im Außen, dann schaffst du auch Klarheit im Inneren.
Ausgemistete Räume laden zum Entspannen, zu Kreativität und Geselligkeit ein.
Verzicht auf Mahlzeiten: Fasten als Einstieg
Die evangelische Theologin Sabine Bobert, Professorin am Institut für praktische Theologie an der Kieler Christian- Albrechts-Universität, hat über das Fasten zum Minimalismus gefunden: „Ich hatte mich gefragt, warum ich mich vollfresse.“ Das sei ihr Einstieg gewesen, sich von Ablenkungen zu befreien und der Sache auf den Grund zu gehen – wie viele Menschen jetzt, in der Fastenzeit vor Ostern.
Kajaks statt Klamotten
Über mehrere Phasen des Aussortierens von Erinnerungsstücken, Kleidung und vor allem Büchern sei sie schließlich zum eigentlichen Kern vorgedrungen, erklärt Bobert: auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Und hier beginne der Bereich, der sie interessiere: Ihr gehe es um Konzentration als Gegenteil zu Zerstreuung. „Deswegen bin ich oft in Klöstern unterwegs.“
Statt vielen Dingen in ihrer Wohnung – etwa die Suppenterrine, „ein Hochzeitsgeschenk von Sowieso“ – besitze sie nun mehrere Kajaks, „für alle Wetterverhältnisse“. Das Erlebnis outdoor auf dem Wasser und das Campen draußen machten sie glücklich, erläutert Bobert diese Investitionen.
Minimalismus als Tor zur Selbsterkenntnis
Auch die Dozentin spricht von Ressourcen, über die Menschen verfügen. Der Minimalismus könne eines von mehreren Mitteln sein, sagt Bobert, diese Kapazitäten von Zeit, Energie, Raum oder Geld freizubekommen und für die eigentlich wichtigen Dinge zu nutzen.
Das Wegwerfen dürfe dabei nicht zum Dogma werden, stellt Bobert fest. Schon gar nicht gehe es darum, einem Modetrend zu folgen. „Das wäre ja auch wieder eine Leistungsanforderung“ und ziele nur darauf ab, was andere Menschen denken:
„Ich bin es, die entscheidet, was mich glücklich macht.“ Sabine Bobert - Theologin
Der Schluss, den viele Menschen aus dem Minimalismus ziehen, aus dem Hamsterrad auszubrechen, sich aufzumachen und etwa als digitaler Nomade unterwegs zu sein – auch das könne Menschen das ersehnte Glücksgefühl bringen sowie zu Selbsterkenntnis und Selbstliebe führen, sagt Sabine Bobert.
Aber auch hier, wendet sie ein, sei der Minimalismus nur ein Instrument und nicht die Lösung, um Ballast loszuwerden: „Man nimmt sich und den eigenen Herzschmerz überallhin mit.“
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